Über Monate bereiste Herr Traum die Welt und lernte dabei verschiedenste Länder dieser Erde kennen. Er sah fremde Städte, ihm bis dato unbekannte Kulturen, Naturschönheiten und faszinierende Bauwerke. Er traf unterschiedlichste Menschen - große und kleine, Personen mit dunkler oder heller Hautfarbe, spärlich bekleidete Bewohner oder adrett gekleidete Stadtmenschen. Er sah Seen, Flüsse und Ozeane, deren Wassermenge gigantisch und nie enden wollend waren. Er besuchte die Wüste und war im ersten Moment von den scheinbar menschenfeindlichen Lebensbedingungen erschüttert, bis ihm die Bewohner dieser Regionen die Schönheit vor Augen führten. Herr Traum wohnte für kurze Zeit in riesigen Metropolen und staunte über die technischen Errungenschaften dieser vermutlich intelligenten Bevölkerung. Jedes Land, das Herr Traum besuchte, war auf eine ganz spezielle Art und Weise einzigartig und ihre Bewohner so individuell wie ihre Heimat. Er war sich im Grunde seines Herzens sicher, dass alle Menschen, denen er begegnet war, tief in ihrem Inneren nach demselben Ziel strebten: Ein gutes Leben zu führen.
Während seiner ausgedehnten Reisezeit hatte Herr Traum neben all den schönen Erfahrungen und Begegnungen leider auch die Schattenseiten dieser scheinbar heilen Welt vor Augen geführt bekommen. All die unzähligen schönen Momente, die unheimliche Bereicherung durch die vielen Gespräche mit verschiedensten Leuten, traten jedoch mit jeder zusätzlichen negativen Erfahrung immer mehr in den Hintergrund. So sehr ihn die wundervollen Plätze dieser Länder, die unbeschreibliche Schönheit der Natur, die Anpassungsfähigkeit der Menschen und Tiere begeisterte, umso trauriger machte ihn die Erkenntnis, wie respektlos die Menschen mit unserer Mutter Erde umgingen. Schmerzvoll und ohnmächtig musste er die Kluft zwischen arm und reich, die durch die Machtgier ein paar weniger auf Kosten ganz vieler entstand, dulden und den Anblick von Krieg, Leid und Hunger ertragen. Schandtaten ein paar weniger Narzissten, die für die Befriedigung der eigenen Macht und der Gier nach immer mehr Geld, die Erde und ihre Bewohner hemmungslos ausbeuteten. Enttäuscht über die gewaltige Umweltverschmutzung und die vielen tiefen Wunden, die Mutter Erde mittlerweile zugefügt wurden, machte sich Herr Traum mit vielen offenen Fragen wieder auf den Nachhauseweg. Es war Zeit, die Reise zu beenden und in seine Heimat Visionaris zurückzukehren.
Nach vielen Stunden Reisezeit kam er endlich wieder in seinem Heimatland Visionaris an. Vereinzelt sah er bekannte Einwohner, doch Herr Traum war von den Strapazen der Rückkehr zu sehr erschöpft, um sich wie gewohnt mit ihnen auszutauschen. Er grüßte freundlich und bat um Verständnis, dass er sich erst einmal ausruhen und die vielen Ereignisse der letzten Monate verarbeiten muss. Er brauchte jetzt Zeit für sich alleine. Die vielen offenen Fragen und Gedanken, die ihn momentan durch den Kopf jagten, das Gefühlschaos, alles musste erst seinen Platz finden. Die Gedankenfragmente mussten sorgfältig reflektiert, zu einem großen Ganzen zusammengefügt und schließlich ordentlich in seinem Geist abgelegt werden. Er öffnete die Haustüre seiner kleinen Hütte, stellte seinen Koffer im Vorraum ab und ging direkt in den Wohnraum, wo er sich völlig ausgelaugt und müde in seinen äußerst bequemen Lesesessel fallen ließ. Es dauert nicht lange und Herr Traum viel in einen tiefen Schlaf, in dem er die vielen Eindrücke und Erlebnisse zu verarbeiten begann.
Visionaris war ein kleines Land im Nirgendwo. Die Einwohner lebten nach ein paar wenigen einfachen Regeln, die sowohl die Freiheit des Einzelnen förderte, als auch die Freiheit eingegrenzte, wenn es für das Gemeinwohl der Bewohner notwendig war. Ein Leben im Einklang mit der Natur war selbstverständlich und das höchste Ziel war der Schutz von Mutter Erde. Mutter Erde gibt und nimmt Leben und daher war es selbstverständlich, dass nur ein Leben mit und nicht gegen die Natur nachhaltig und sinnvoll sein konnte. Der Anblick der brutalen Wunden und der skrupellosen Schändung unserer Erde für die Gewinnung verschiedenster Rohstoffe waren daher für Herrn Traum verstörend und nicht nachvollziehbar. Er konnte und wollte nicht verstehen, warum dieser Wahnsinn notwendig war. Alle Bewohner auf Visionaris führten ein gutes Leben und niemand würde jemals auf die Idee kommen, Mutter Erde mit aller Gewalt auszubeuten. Sie schenkt uns Luft zum Atmen, Wasser zum Stillen unseres Durstes und Nahrung gegen unseren Hunger. Alles, was wir für ein gutes Leben brauchen. Doch jenseits von Visionaris gab es Länder, in denen es anscheinend normal war, genau das Gegenteil zu tun. Für Macht und Geld - welch komischer Beweggrund - wurde alles technisch und menschlich Mögliche unternommen, um die Erde auszubeuten. Es gab keine ersichtlichen Grenzen, um diese unersättliche Gier in Zaum zu halten. Die Luft wurde so stark verpestet, dass in gewissen Städten ein atmen, ohne Schutzmasken nicht mehr möglich war, Flüsse und Teile der Ozeane wurden mit Müll und Chemikalien vergiftet und zerstörten damit die Lebensgrundlage unzähliger Tiere und Pflanzen oder riesige Monstergeräte durchwühlten ganze Landstriche, um geringe Mengen irgendwelcher seltener Rohstoffe zu finden. Diese Maschinen rissen gnadenlos riesige Wunden in den Erdmantel, für deren Genesung Mutter Erde wahrscheinlich Jahrzehnte benötigen wird.
Auf Visionaris steht jeder einzelne Mensch, die Familien und die solidarische Gemeinschaft im Vordergrund. Das Ziel ist ein gutes Leben für alle Menschen und nicht der materielle Reichtum ein paar Weniger. Gier und Neid sind verpönt, denn eine der wichtigsten Prinzipien ist die Harmonie von Geben und Nehmen. Jeder Bewohner wird daher vom Kindesalter an in seinen Talenten gefördert, um sein Können und seine Stärke für sich, aber auch für alle anderen sinnvoll einsetzen zu können. Es kann nicht jeder alles können, aber alle können jedem helfen. Es ist eine Art Talentetausch, in dem jeder das seine zum gemeinsamen Gelingen beiträgt, aber trotzdem nicht zu kurz kommen darf. In den meisten Ländern, die Herr Traum in den letzten Wochen bereiste, werden solche Vorstellungen und Ideen eher als utopische Spinnereien abgetan. Es gibt vereinzelt kleine Menschengruppen, die sich über solche Ideen Gedanken machen und ähnliche Ansätze wie auf Visionaris anstreben, doch eine Umsetzung scheint noch in weiter Ferne zu sein. Es gibt Visionen eines “Bedingungslosen Grundeinkommens” oder den Begriff der “Ökosozialen Marktwirtschaft”, die ansatzweise das Anstreben, was auf Visionaris seit Generationen gelebte Realität ist. Diese Menschen träumen von Work-Life-Balance, weil sie in ihrem derzeitigen Hamsterrad weder Zeit für sich noch für ihre eigene Familie finden. Sie strampeln tagtäglich im Hamsterrad der Routine, sind gestresst und genervt. Ein sehr hoher Preis für ein unsinniges Ziel - noch mehr materieller Reichtum - anstatt endlich zu erkennen, dass sie bereits von allem viel zu viel haben. Sie haben es verlernt auf ihre innere Stimme zu hören und den Signalen des eigenen Körpers zu vertrauen. Sie steigen aufs Gaspedal, anstatt ihre Lebensgeschwindigkeit zu reduzieren, in der Hoffnung durch noch mehr Geschwindigkeit noch mehr Eigentum und Erfolg zu erlangen. Was ist in diesen Ländern passiert? Warum haben sich diese Bewohner schon soweit von einem natürlichen Lebensstil entfernt? Warum ist Macht, Geld, Gewinnmaximierung und Spekulation wichtiger als ein gutes, sinnstiftendes und nachhaltiges Leben?
Das Schlimme an diesen Missständen ist, das Eigenverschulden und die Uneinsichtigkeit dieser Bevölkerung. Sie beklagen und bekämpfen Probleme, die sie größtenteils selbst verschuldet oder erzeugt haben. Sie öffneten die Büchse der Pandora und hadern nun mit den Konsequenzen. Doch das Böse enthält auch immer das Gute, sowie jede Krise die Chance für einen Neuanfang bietet. Die Menschen dieser Länder haben viele Fehler gemacht, doch ist es nie zu spät, aus diesen Fehlern zu lernen und den ersten Schritt in eine neue, andere Richtung zu setzen. Veränderung ist immer möglich, sofern der notwendige Wille dafür vorhanden ist.
Mittlerweile sind viele Stunden vergangen und Herr Traum versuchte, langsam seine Augen zu öffnen. Er zwinkerte ein paarmal und probierte die schlaftrunkenen Augen zu öffnen. Mühsam und verwundert über die Helligkeit des Raumes blieben die Lider schließlich geöffnet. In der Annahme, dass er nur kurze Zeit weggenickt sei, war er von dem hell ausgeleuchtete Wohnzimmer sichtlich irritiert. Zögerlich gewöhnten sich seine Augen an das Licht und er erhob sich aus dem Stuhl. Mit müden Beinen bewegte er sich Richtung Fenster und erkannte, dass bereits ein neuer Tag auf Visionaris begonnen hatte. Er ging zur Haustüre hinaus und begrüßte den neuen Tag: "Guten Morgen Visionaris. Ich freue mich auf unseren gemeinsamen Tag!" Die ersten Sonnenstrahlen berührten sein Gesicht, das entfernte Rauschen des Meeres beruhigte seine Seele und die Vorfreude auf einen harmonischen Tag stimmte ihn hoffnungsvoll.
Plötzlich fielen Herrn Traum einzelne Bruchstücke der Erlebnisse und Gedankenfetzen der letzten Nacht ein und er fragte sich insgeheim:
"Habe ich das alles wirklich erlebt oder war es nur einer meiner Träume?"
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